Etwa 3,5 Millionen Nutzer hören Radio via Smartphone. Man darf davon ausgehen, dass die meisten dieser Hörer dafür Kopfhörer verwenden. Rund 25 Millionen Hörer werden im Auto erreicht. Mit all diesen Menschen steht Radio in einem sehr intimen Kontakt. Die Bindung und Wahrnehmung von Radio ist enger, als bei der Beschallung eines ganzen Raumes.
„Scheiß Werbung!“ entfuhr es kürzlich einem Mann, dem ich morgens häufig im Wald begegne. Gleichzeitig riss er sich die Kopfhörer aus den Ohren. Ich begriff sofort, dass es sich um Audio handeln musste. Da dies genau mein Thema ist, sprach ich ihn an und fragte, was genau er denn meine. Er höre unterwegs immer den Sender, den er auch zu Hause hört. Info und Musik gefallen ihm. Doch seit einigen Tagen liefe ein Spot in der Werbung, der ihn zur Weißglut brächte. „Skandal! Skandal!“ brülle dort eine hysterische Frauenstimme, um Tiefpreise bei einem Discounter zu verkünden.
Verantwortung neu denken
Spätestens jetzt ist für Kreative und Agenturen der Zeitpunkt gekommen, die eigene Verantwortung neu zu denken. Eine Verantwortung, die wir sowohl den Zielgruppen unserer Kunden, als auch den Medienpartnern gegenüber tragen. Es ist nicht zu erwarten, dass die Angebote und Dienstleistungen unserer Kunden an Sympathie gewinnen, wenn wir direkt im Zentrum der Wahrnehmung negative Reize auslösen. Der Sender wird dabei unfreiwillig in Mitleidenschaft gezogen. Denn wenn Hörer weg- oder abschalten, verliert das Medium auf ganzer Linie.
Als prägnant für dieses Hörerverhalten erwies sich die Kampagne eines Berliner Elektronikhändlers vor etwa 13 Jahren. Damals schaltete das Unternehmen auf sämtlichen Berliner Sendern extrem kurze Spots. Die Längen betrugen drei und vier Sekunden. Die Message wurde entsprechend gehetzt transportiert. Pro Werbeblock schaltete das Unternehmen zwischen drei und fünf dieser Clips. Spätestens nach zwei Wochen waren die Hörer derart genervt, dass sie von ihren Stammsendern weg schalteten und ein Konkurrenzprogramm wählten. Doch auch dort liefen diese Spots. Das Resultat zeigte sich im Folgejahr: sämtliche Berliner Sender hatten enorme Reichweitenverluste zu beklagen. Doch auch der Elektronikhändler verfluchte die Radiowerbung als unwirksam.
Lose – Lose statt Win – Win. Wenn beide Seiten verlieren
In der Folge dieser Erfahrung änderten die Vermarkter ihre AGB und forderten nun Mindestspotlängen ab 10 Sekunden ein. Dies war ein immens wichtiger Schritt in Richtung Qualitätszuwachs. Seither werden längere Radiospots bei vielen Vermarktern durch Preisnachlässe gefördert. Doch scheint auf Seiten zahlreicher Werbetreibender der Anspruch zu bestehen, längere Spotformate bis an den Rand mit Information füllen zu wollen. Darüber hinaus greifen besonders Discounter, Möbel- und PKW-Händler gerne auf das alte Stilmittel des Marktschreiers zurück. In diesem Moment sollte auf Agenturseite der Mut vorhanden sein, dem Kunden von derartigen Kreationen abzuraten.
Die Bindung von Audio zum Rezipienten wird stetig enger. Auch Radio steht heute – vergleichbar mit seinen Anfangsjahren – in einer 1:1 Beziehung mit dem Hörer. Diese Bindung kommt einer zwischenmenschlichen Partnerschaft sehr nahe. Sie wird begleitet von vergleichbaren Emotionen, die wir aus menschlichen Bindungen kennen. Wenn wir diese Beziehung aufrecht erhalten und intensivieren wollen, müssen wir charmant werden und einfallsreich bleiben.
Oder brüllen Sie einem geliebten Menschen unerwartet ins Ohr?